Folge 2 vom 10.10.2009:

Bienen und Fabeln

 


Inhalt:

    - Die Moral der Demokratie,
    - das geheime Wissen der Manager
 und
    - ein Bienenvolk aus Profilneurotikern.


 

 

Über meinem Balkon, an einem Fallrohr, hat sich ein Bienenvolk angesiedelt, so eine Miniaturzivilisation für Modellbauer. Niedliche, kleine Biester! 

Es gibt offenbar eine ganze Menge verschiedener Bienen in so einem Volk. Von außen sind Drohnen, Sammlerinnen, Belüfterinnen und Wächterinnen zu erkennen. Und ich bin sicher, verborgen in den Tiefen des Bauwerks gibt es - neben der Königin - Heerscharen von Kindergärtnerinnen und Architekten. 

Wer einmal in die Organisation eines Bienenstocks eindringt, den lässt sie nur schwer wieder los. Nehmen wir nur einmal die Belüftung: Ein Bienenstock hat in seinem Inneren eine Temperatur von etwa 34° Celsius. Um diese Temperatur, die für das Überleben der Brut notwendig ist, konstant zu halten, gibt es ein ausgeklügeltes Ventilationssystem. Eine Reihe von Arbeiterinnen fächelt einen kontinuierlichen Luftstrom vom Eingang her durch das Bauwerk. So ein Volk ist eben eine verwirrende, komplexe und wunderschöne Organisation.

Kennen Sie eigentlich das moralische Fundament unserer freiheitlichen, westlichen Demokratie? Es findet sich in Fragmenten einer Flugschrift aus dem 18. Jahrhundert und trägt den Titel  „Bienenfabel“. Der Autor heißt Bernard de Mandeville.
Mandevilles These ist ganz einfach: Ein Bienenstock basiert auf dem Egoismus der einzelnen Biene. Wenn jede Biene tut, was Ihr am besten gefällt, entsteht daraus Wohlstand für alle. Anders gesagt: Wenn jeder für sich selbst sorgt, ist für alle gesorgt.

Mandevilles Bienen sind übrigens geheimes Herrschaftswissen unserer Manager: Lernstoff für angehende Ökonomen und Soziologen. Sozusagen Kaderwissen: Das darf man nur ausplaudern, wenn man sicher ist, dass keiner es mitkriegt. Ich habe allerdings nicht die geringste Ahnung, warum sich Staatsphilosophen permanent mit Bienen beschäftigen. Von Vergil über Mandeville und Karl Marx bis in die Gegenwart: Nie Ameisen! – Immer Bienen!

Vermutlich versteht sich der moderne Ökonom als Imker, verbunden mit dem Vorteil, dass man das Chaos nicht organisieren, sondern nur den Honig abschöpfen muss. 

Immerhin, einige Parallelen zwischen einer Gesellschaft und einem Bienenvolk liegen ja auf der Hand. Der Aufstieg einer Bienenkultur beispielsweise bemisst sich an steigendem Nahrungsvorrat, steigender Anzahl der Bienen und steigender Größe des Stocks. Wir definieren Fortschritt momentan als Geburtenrückgang, „just-in-time“-Produktion und Ressourcenknappheit. 

Und am Ende schließlich hat sich auch die Physik an den Bienen versucht. In den Tagebüchern von Albert Einstein kann man nachlesen: „Wenn die Biene einmal von der Erde verschwindet, hat der Mensch nur noch vier Jahre zu leben. Keine Bienen mehr, keine Bestäubung mehr, keine Pflanzen mehr, keine Tiere mehr, kein Mensch mehr.“ 

Die Wahrheit ist einfacher: Wenn die Arbeiter-Biene den Stock nur belüftet, solange sie sofort Honig bekommt oder die Königin zusieht – ist der Stock erledigt. – Am Ende! – Tot!

Das ist die Geschichte unserer Zivilisation: Ein Bienenvolk aus Profilneurotikern! Und weil wir schon mal beim Thema sind: Kann es eigentlich passieren, dass eine gesamte Menschheit jahrhundertelang über Bienen fabelt und dabei nicht einen einzigen Bienenstock ansieht?

von Gerald Reuther.

 

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